Auf Sunims Grab

[194] Ihr, deren Chor bey Abels Todtenfeyer

Die ersten Elegien sang,

Löst, Engel Gottes, mir den Augenschleyer

Und stimmet meiner Harfe Klang.


Geleitet mich zu jenem frohen Hügel,

Den eine Rosenkrone schmückt.

Das eiserne, verhängnißvolle Siegel

Des Todes ist ihm aufgedrückt.


O tretet sanft, denn einer eurer Brüder

Schläft unter diesem frischen Moos.

Doch nein, eröfnet seine Gruft mir wieder

Und hebt ihn aus der Erde Schooß.


Sie thut sich auf; der Sarg entsteigt, vom Schimmer

Des Monds bestrahlt, der Dunkelheit.

Ach! und mein Aug erkennt die schönen Trümmer

Von seines Geistes Pilgerkleid.


O laß mich, laß mich ihn noch einmal küssen,

Allwürger, deinen frühen Raub.[195]

Mein Sunim, ach mein Kind, warum begießen

Nicht deine Thränen meinen Staub!


Wo ist der Geist, der diesen Schutt bewohnte?

Er, der in seinem Raupenstand,

Dem jungen Lenze gleich, auf Rosen thronte

Und wie der junge Lenz verschwand?


Wo ist das Herz, das an des Meinen Seite

Noch jüngst so laut, so feurig schlug,

Als ich zum Freunde mir den Knaben weihte,

Der schon den Tod im Busen trug?


Sein Geist entfloh, zu groß für seine Zelle;

Sein Herz, für diese Welt zu rein,

Verwelkte; doch der Liebe heil'ge Quelle

Schließt kein Gefäß von Muskeln ein.


Er lebt, er liebet fort und seiner Jugend

Reicht Gott des Mannes Palme dar,

Ihm, dessen letzte That noch eine Tugend,1

Schon eines Engels würdig war.
[196]

Du, der du sanft die holde Blume küßtest,

Als sie an meiner Brust verdarb;

Sprich, du sein Schutzgeist, wenn du sterben müßtest,

Stürbst du nicht wie mein Sunim starb?


Ach und ich lebe; doch versiegt ihr Zähren,

Versiegt; er könnte meinen Schmerz

Vom Himmel sehn und meine Thränen wären

Auch dort noch Dolche für sein Herz.


Führt mich zurück, ihr Engel! selbst das Hoffen

Aufs Wiedersehn wischt sie nicht ab;

Denn ach, das Bäumchen, das der Strahl getroffen,

War eines blinden Vaters Stab.

Fußnoten

1 Ungern, aber der väterlichen Bitte willfahrend, reichte er standhaft dem Wundarzte den Arm, und fiel mit dem Aderschlag in tödtliche Zuckungen.


Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 1, Tübingen 1802, S. 194-197.
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