Das Nackte

[171] Kalt bleibt dein Sinn, kalt bleibt dein bestes Streben,

Du gleichst dem Wurme, der verlassen wühlt –

Beglückt nur, wer ein warmes Menschenleben

Mit seinen beiden Armen einst gefühlt!

An dessen Herz ein ander Herz geschlagen,

An dessen Haupt ein ander Haupt gelehnt,

Der von dem Strom der Liebe fortgetragen

Zum Meere der Erfüllung sich gesehnt.


Der Strom der Liebe wiegt auf blauen Wellen

Vorüber dich an blumenreichem Strand;

Die Rose grüßt den stürmischen Gesellen,

Ihm nickt die Rebe von der Felsenwand.

Doch weiter eilst du, bis gewalt'gen Flusses

Der Ozean vor deinen Augen blinkt,

Bis jauchzend im Orkane des Genusses

Dein Herz vernichtet in die Wogen sinkt.


Das ist die Taufe, draus ein neues Wesen

Beglückt entwandelt zu der Sonne Strahl.

Zum Liebling hat dich die Natur erlesen,

Ein ganzer Mensch warst du zum ersten Mal.

Der Augenblick, der Alles dir erschlossen,

Er ist's, er stempelt dich sofort zum Mann;

Aus der Umarmung ist dir frisch entsprossen,

Worauf die Keuschheit tausend Jahre sann!
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Der das Erhabenste zu meißeln dachte,

Dem weisen Griechen, ihm gelang es nur:

Als ihm der Nacktheit süßer Zauber lachte,

Die Fülle der entschleierten Natur.

Und wie das Bild, dem Marmor losgewunden,

So strahlt der Meister auch durch alle Zeit,

Der Göttliches im Menschen nur gefunden

Und Sitte nur in reiner Sinnlichkeit.


Das oft geweint mit weinenden Madonnen,

Ein Auge, das durchflog der Dome Chor:

Es mag sich freudig auch im Glanze sonnen

Des Heitern und der Reize frischem Flor.

Was bei der Nacht geheimnisvoller Feier

Dein Gott, dein Leben und dein Liebstes war:

Laß es beseelen Meißel auch und Leier

Und sich gestalten nackt und frei und klar.


Zum Schatten wandelt es das beste Leben,

Es hat den kühnsten Adler schon gelähmt,

Wenn sich die Kraft in ihrem vollsten Streben

Erzitternd der Natürlichkeit geschämt.

Wie die Natur in ihrer ew'gen Schöne,

In edler Nacktheit schimmert nur allein,

So mögen ihre Töchter auch und Söhne

Nicht fürchten, sinnlich, wie sie sind, zu sein.
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Quelle:
Georg Weerth: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band 1, Berlin 1956/57, S. 171-173.
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