Mädchen's Vaterlandslied

[46] Du liebes theures Vaterland!

Was ich genoß und was ich fand,

Das dank' ich deiner Liebe!

Es liebt der Mann dich nicht allein:

Dir darf sich auch das Mädchen weih'n

Mit heilig-zartem Triebe.


Du liebes theures Vaterland!

Noch bist du an des Abgrunds Rand,

Noch trägst du Band und Ketten!

Ach hätt' ich Schwerdt und Lanzenschaft,

Ach hätt' ich Stärke, hätt' ich Kraft,

Wie wollt' ich dich erretten!
[47]

Du liebes theures Vaterland!

Mit meinem Muth, mit meiner Hand

Kann ich nicht für dich streiten.

Zu Hause sitz' und härm' ich mich,

Und weine manche Thrän' um dich!

Was hab' ich nicht zu leiden!


Du liebes theures Vaterland!

Ich trag' um dich ein Trau'rgewand,

Und gehe nicht zum Tanze,

Zu Tanz und Spiel, ins liebe Thal,

Zum Lorbeerhayn, im Sonnenstrahl,

Mit heiterm Blumenkranze.


Du liebes theures Vaterland!

Kein Rosenblatt, kein farbig Band

Schmückt meine blonden Locken!

Vor meinem Fenster steh' ich trüb,

Und wein' auf euch, die ihr so lieb

Mir winket, Blumenglocken.


Du liebes theures Vaterland!

Dann denk' ich, die er vor mir stand,

Und seiner heißen Küsse!

In seinen Arm, an seiner Brust!

Ach welche Wonn', ach welche Lust

Ich dir zu Liebe misse!
[48]

Du liebes theures Vaterland!

Was ich genoß und was ich fand,

Dank' ich ja deiner Liebe!

Es liebt der Mann dich nicht allein;

Dir darf sich auch das Mädchen weih'n

Mit heilig zartem Triebe!


Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Lieder der Griechen 1823. Tübingen 1979, S. 46-49.
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