Das Singental

[241] Der Herzog tief im Walde

Am Fuß der Eiche saß,

Als singend an der Halde

Ein Mägdlein Beeren las.

Erdbeeren, kühl und duftig,

Bot sie dem greisen Mann,

Doch ihn umschwebte luftig

Noch stets der Töne Bann.


»Mit deinem hellen Liede«,

So sprach er, »feine Magd!

Kam über mich der Friede

Nach mancher stürm'schen Jagd.

Die Beeren, die du bringest,

Erfrischen wohl den Gaum,

Doch singe mehr! du singest

Die Seel in heitern Traum.


Ertönt an dieser Eiche

Mein Horn von Elfenbein,

In seines Schalls Bereiche

Ist all das Waldtal mein;

So weit von jener Birke

Dein Lied erklingt rundum,

Geb ich im Talbezirke

Dir Erb und Eigentum.«


Noch einmal blies der Alte

Sein Horn ins Tal hinaus,

In ferner Felsenspalte

Verklang's wie Sturmgebraus:

Dann sang vom Birkenhügel

Des Mägdleins süßer Mund,

Als rauschten Engelflügel

Ob all dem stillen Grund.
[241]

Er legt in ihre Hände

Den Siegelring zum Pfand:

»Mein Waidwerk hat ein Ende,

Vergabt ist dir das Land.«

Da nickt ihm Dank die Holde

Und eilet froh waldaus,

Sie trägt im Ring von Golde

Den frischen Erdbeerstrauß. –


Als noch des Hornes Brausen

Gebot mit finstrer Macht,

Da sah man Eber hausen

In tiefer Waldesnacht;

Laut bellte dort die Meute,

Vor der die Hindin floh,

Und fiel die blut'ge Beute,

Erscholl ein wild Halloh.


Doch seit des Mägdleins Singen

Ist ringsum Wiesengrün,

Die muntern Lämmer springen,

Die Kirschenhaine blühn;

Festreigen wird geschlungen

Im goldnen Frühlingsstrahl;

Und weil das Tal ersungen,

So heißt es Singental.


Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 241-242.
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