96. Abendlied

[174] 1793.


Groß und rotentflammet schwebet

Noch die Sonn' am Himmelsrand,

Und auf blauen Wogen bebet

Noch ihr Abglanz bis zum Strand;[174]

Aus dem Buchenwalde hebet

Sich der Mond, und winket Ruh

Seiner Schwester Erde zu.


In geschwollnen Wolken ballet

Dunkler sich die rote Glut,

Zarter Farbenwechsel wallet

Auf der Rockenblüte Flut;

Zwischen schwanken Halmen schallet

Reger Wachteln heller Schlag,

Und der Hirte pfeift ihm nach.


Wohlgeruch entsteigt den Auen

Dort in zartgewundnem Duft,

Und die jüngsten Stauden tauen

Kühles Labsal durch die Luft;

Jedes Blümchen saugt mit lauen

Lippen, und das Gräschen sinkt

Unter Perlen, die es trinkt.


Ihre Ringeltauben girren

Noch die Täuber sanft in Ruh,

Düstre Fledermäuse schwirren

Nun dem glatten Teiche zu,

Und der Käfer Scharen irren,

Und der Uhu, nun erwacht,

Ziehet heulend auf die Wacht.


Mit dem Köpfchen im Gefieder

Schlummern unsre Sänger nun,

Es verstummen ihre Lieder,

Selbst die lauten Stare ruhn

Auf den schwanken Binsen wieder,

Nur die Nachtigall allein

Freut sich noch im Mondenschein.


Wie, auch in der Stille rege

Mit dem Anbeginn der Nacht,

Nach der mannigfalt'gen Pflege,

Nun die Mutter ist bedacht,

Daß sie ihre Kindlein lege;[175]

Wie sie jedes letzten Gruß

Noch belohnt mit weichem Kuß;


Also, nach des Tags Getümmel,

Schaut der ew'gen Liebe Blick

Durch den sternenvollen Himmel

Auf die Erde noch zurück;

Früh vernimmt sie das Gewimmel

Der erwachten Erd', und spät

Hört sie den, der einsam fleht.


Wenn die Nachtigallen flöten,

Hebe dich, mein Geist, empor!

Bei des jungen Tags Erröten

Neig', o Vater, mir dein Ohr!

Von der Erde Freud' und Nöten

Steig', o Geist, im Duft der Au!

Send', o Vater, deinen Tau!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 174-176.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Christen, Ada

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Gedichte. Lieder einer Verlorenen / Aus der Asche / Schatten / Aus der Tiefe

Diese Ausgabe gibt das lyrische Werk der Autorin wieder, die 1868 auf Vermittlung ihres guten Freundes Ferdinand v. Saar ihren ersten Gedichtband »Lieder einer Verlorenen« bei Hoffmann & Campe unterbringen konnte. Über den letzten der vier Bände, »Aus der Tiefe« schrieb Theodor Storm: »Es ist ein sehr ernstes, auch oft bittres Buch; aber es ist kein faselicher Weltschmerz, man fühlt, es steht ein Lebendiges dahinter.«

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon