Ode an die Lerche.

[326] Heil dir, Geist der Lieder!

Vogel bist du nicht,

Der vom Himmel nieder

Aus dem Herzen schlicht

Mit ungelernter Kunst in muntern Weisen spricht.


Feuerwolken gleich,

Hoch und höher schwingest

In der Lüste Reich

Du dich auf, und klingest,

Und singend steigst du stets, wie steigend stets du singest.


In der Abendsonne

Goldner Strahlenpracht

Schwebst du voller Wonne

Hin und wieder sacht,

Gleich körperloser Lust, die lind das Herz entfacht.


In die Purpurwellen

Tauchst du sanft hinein; –

Gleich dem Stern beim hellen,

Klaren Tagesschein,

Sieht man dich nicht, doch hör' ich deine Melodein.


Wie der Silbersterne

Strahlenschimmer sprüht,

Dessen Licht, das ferne,

Morgens schnell verglüht,

Und doch fortleuchtet, ob der Blick es kaum mehr sieht.[327]


Deiner Lieder Reigen

Erd' und Luft durchschwillt,

Wie in nächt'gem Schweigen

Einer Wolke mild

Des Mondes Licht, das rings den Himmel hellt, entquillt.


Aehnlich dir an Segen

Nichts die Welt umschließt.

Nie so goldner Regen

Bunter Wolk' entfließt,

Wie deiner Lieder Fluth harmonisch sich ergießt.


Wie ein Dichter, singend,

Was sein Herz empfand,

Jede Brust bezwingend,

Bis die Welt entbrannt

In Furcht und Hoffnung, die sie früher nicht gekannt;


Wie auf stolzer Zinne

Eine Edelmaid,

Die von süßer Minne

Singt bei nächt'ger Zeit

In holdem Liebessang, berauscht von Lust und Leid;


Wie im abendfeuchten

Thal des Glühwurms Licht,

Deß ätherisch Leuchten

Durch die Gräser bricht,

Doch siehst das Thierchen du vor Blüth' und Blättern nicht;


Wie die Ros' in Lüften

Wiegt ihr Blumenhaupt,

Bis der West in Düften

Ihr den Kelch zerklaubt,

Daß trunken wird der Dieb, der ihr den Honig raubt.[328]


Frühlingsregens Fließen

Auf dem grünen Hang,

Thaufall auf den Wiesen,

Nichts die Welt entlang,

Das frisch und fröhlich ist, gleicht deinem hellen Sang.


Dein Empfinden lehr uns,

Vogel oder Geist!

Nie ein Lied so hehr uns

Wein und Liebe preist,

Wie deins im Götterrausch die Seele aufwärts reißt.


Bräutliche Gesänge,

Siegesliederklang

Sind nur hohle Klänge

Gegen deinen Sang –

Ein fehlend Etwas spürt der Geist in ihnen bang.


Ach, was mag die Quelle

Deiner Lieder sein?

Anger, Berg und Welle?

Wolkenflucht und Hain?

Der Liebesinbrunst Macht? Unkenntniß aller Pein?


Nie verzehrt Ermatten

Deine frohe Brust,

Dumpfen Ekels Schatten

Trübt dir nie die Lust;

Du liebst, doch ist dir nie der Liebe Leid bewußt.


Dir in Schlaf und Wachen

Muß des Todes Welt

Lichterfüllter lachen,

Als sie uns sich hellt –

Wie tönte sonst dein Lied so rein vom Himmelszelt?[329]


Uns zerquält das Morgen

Oder Gestern heut,

Uns wird, ach! durch Sorgen

Jede Lust entweiht,

Und unser schönstes Lied, es spricht von tiefstem Leid.


Doch wenn fremd uns wären

Furcht und Stolz und Haß;

Würde nie von Zähren

Uns das Auge naß,

So ließ' uns deine Lust wohl kalt ohn' Unterlaß.


Besser als geschraubter

Melodien Brunst,

Besser als verstaubter

Bücher Weisheitsdunst,

Du Erdverächter, wär' dem Dichter deine Kunst.


Halb nur deine Lust

Wolle mit mir tauschen: –

Dann aus meiner Brust

Sollt' ein Lied entrauschen,

Dem würde, wie ich dir gelauscht, die Erde lauschen.

Quelle:
Shelley, [Percy Bysse]: Ausgewählte Dichtungen. Leipzig [o. J.], S. 326-330.
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