1. Am Salbung des heiligen Geistes

[271] Fall auf die Gemeinde nieder,

Geist! der uns mit Feuer tauft;

Alle sind wir Jesu Glieder,

All mit seinem Blut erkauft:

Füll' uns mit der Andacht Gluth,

Laß der Leidenschaften Fluth

Nicht des Herzens Ruhe stören;

Denn wir singen Gott zu Ehren.


Salb' uns alle, lehr' uns feiern

Jesu Christi Leidenzeit,

Unsern Bund mit Gott erneuern,

Lehr' uns, Geist der Heiligkeit;

Rein und keusch sei unser Herz,

Nicht von Eis und nicht von Erz;

Und, von deinem Strahl getroffen,

Jeder frommen Rührung offen.


Weihe unsers Geistes Kräfte,

Salbe, salbe den Verstand;

Mach das göttliche Geschäfte

Der Versöhnung ihm bekannt.

Heilige die Phantasie,

Seelenschöpfer! laß sie nie

Bilder schaffen ohne Klarheit,

Ohne Gottes Kraft und Wahrheit.


Stell den Mittler neues Bundes

Uns in seiner Schönheit vor,

Bring die Reden seines Mundes

Mächtig vor des Sünders Ohr;

Führ' uns nach Gethsemane

In das Allerheiligste,

Wo des Richters Arm ihn schreckte

Und mit Schweiß und Blut bedeckte.[271]


Zeig uns dann den Weltgebieter

Unter seiner Mörder Schaar,

Wie er duldete die Wüther

Um ihn her; wie groß er war;

Wie er falscher Zeugen Hohn,

Purpurmantel, Dornenkron',

Geißelschläge, Spott und Wunden

Hocherduldend überwunden.


Geh' mit uns dem Opferlamme

Auf dem blut'gen Pfade nach;

Zeig' uns an des Kreuzes Stamme

Seines großen Todes Schmach;

Fließt sein Blut, sein Blut, sein Blut,

Geist des Herrn! so schaff' uns Muth;

Hüll' uns ein in deine Flügel

Auf dem nachtbeströmten Hügel.


Seine letzten Worte schreibe

Uns ins Herz mit Flammenschrift!

Stärk' uns, Tröster! Bleibe, bleibe

Bei uns, wenn der Tod uns trifft.

Wann: Es ist vollbracht, versöhnt

Ist die Welt! herunter tönt;

Wann wir sehen seine bleiche,

Kalte, blutbefloßne Leiche.


Laß uns dann am Grabe weinen;

Weinen laß uns nur genug,

An den heiligen Gebeinen,

Die auch unser Frevel schlug.

Laß uns klagen, Mittler! Wir

Sündenknechte haben dir

Dieses Grab bereitet, haben

Deine Wunden dir gegraben.


Geist! du mächtiger Bekehrer

Unsrer Herzen, zeig' uns dann

Nicht in Christo nur den Lehrer,

Der uns blos versöhnen kann;[272]

Nicht den bloßen Märtyrer;

Zeig' uns mehr, o zeig' uns mehr!

Lehr' uns, Geist! wie der Erwürgte

Bei dem Richter für uns bürgte;


Wie ihn unsre Schuld zerfleischte,

Unsre Missethat verhöhnt;

Wie der Richter Rache heischte,

Wie das Lamm ihn ausgesöhnt,

Wie er als Erlöser litt,

Nun als Mittler uns vertritt;

Wie er, unsre Schuld zu büßen,

Seine Wunden Gott gewiesen.


O den hohen Werth des Blutes

Lehr' uns, Geist des Ewigen!

Dies Gewicht des höchsten Gutes

Für die armen Sterblichen.

Fach den Glauben in uns an,

Daß, wenn Zweifelsucht und Wahn,

Wenn des Fleisches Trieb uns peinigt,

Dieses Opferblut uns reinigt.


O du heilige Gemeinde,

Blick zu deinem Haupt empor,

Zum Messias, deinem Freunde,

Den zum Lamme Gott erkor.

Welche Wonn' und Seligkeit

Schafft die stille Leidenszeit!

Sie entreißt uns dem Getümmel,

Lüpft den Vorhang von dem Himmel.


Leiden, wie der Mittler leiden

Wollen wir, zu Gott gekehrt;

Sterben wollen wir mit Freuden,

Weil sein Tod uns sterben lehrt.

Sehen werden wir dann ihn,

Tod! o Tod! du bist Gewinn!

Bist ein Aufflug in die Hütten,

Die der Gottmensch uns erstritten.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 271-273.
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