6. Der 49. Psalm


Auff die Weise deß 5.

[173] O Herr, dein Ohren zu mir kehre.


Ihr Menschenschar, ihr grossen Herden

Der Leute, höret fleissig an,

Diß was man hier nur hören kan:

Thue auff das Ohr, o Volck der Erden,

Gelehrt zu werden.


Ihr Herren, die nach Ehren streben

Und die ihr schlechter Ankunfft seyd,

Die viel besitzen weit und breit

Und denen mehr nicht ist gegeben,

Als armes Leben.


Mein wahrer Mund soll was beginnen,

Das als ein Schutz der Klugheit sey;

Es kommen mir Gedancken bey

Verstandes voll, ich habe Sinnen

Die Weißheit können.


Mein Ohr wird nach der Lehre jagen,

Der nichts als Hoheit ist bewust;

Es soll die Harffe meine Lust

Die Sprüche, so ich für zu tragen

Mit Singen sagen.


Was darff ich groß in Furchten schweben

Bey bösen Tagen meiner Zeit,

Wann schon der Straffe Billigkeit,

Die ich verdient durch leichtes Leben,

Mich hat umbgeben?


Zwar viel sind geldstoltz unnd ergetzen

Durch grosses Reichthumb ihren Muth,

Verlassen sich auff falsches Gut

Und pflegen ihren Sinn zu wetzen

An hohen Schätzen.


Doch keiner ist im gantzen Hauffen

Der seinen Bruder lösen kan,

Der ihn bey Gott, bey dem die Bahn

Verrennet ist, frey durch zu lauffen

Erst ab wird kauffen.


Dann eine Seel, als die nicht stirbet,

Er heischet gar zu schweren Lohn;

Man gebe, was man will, darvon

So ist es nichts, das Wort vertirbet

Darmit man wirbet.


Ihm mag doch weder Frist geschehen,

Noch daß er ewig leben soll;

Er muß nur, wann sein Lauff schon voll

Und reiff ist, wider alles Flehen

Die Grube sehen.


Man schauet ja daß weise Leute

So wol als Narren untergehn;

Dem Frembden, die für Erbe stehn,

Wird morgen, sterben sie nur heute,

Ihr Gut zur Beute.


Noch wollen sie sich einverleiben

Durch Häuser in die Ewigkeit;

Ihr Bau soll stehen jederzeit,

Ihr Namen soll der Welt verbleiben,

Und stets bekleiben.


Jedoch sie mögen sich erhöhen

Durch Glücke, das sie viehisch macht,

Sie werden auch bey ihrer Pracht

Wie Vieh und Thiere, die nicht stehen,

Bald, bald vergehen.
[174]

Ihr Hoffen, Wandel, Thun und Tichten

Geht mißlich, ihr Verstand ist blind,

Doch pflegt ihr Stamm und Kindeskind

Nach ihrer Weise sich zu richten

Mit stetem Pflichten.


Sie sollen Schlaffbegräbniß haben,

Deß Todtes feiste Weide seyn,

Den Frommen dienen, wann der Schein,

Der Sonnen kömpt, und Würmer laben,

Wenn sie begraben.


Mich aber, ob ich auch zwar sterbe,

Und meine Seele, wird mein Gott

Erretten auß deß Grabes Noth,

Verleihen, daß ich bey ihm erbe,

Und nicht verderbe.


So solt du nun darnach nicht fragen,

Wann sich ein Schatz bey einem zeigt

Und dessen Hauß sehr plötzlich steigt,

Wird an Gewalt in schnellen Tagen

Empor getragen;


Wann seine letzte Stunde schläget,

So nimpt er nichts mit sich darvon,

Schläfft er im frischen Sande schon,

Es wird kein Reichthumb, das er heget,

Zu ihm geleget.


Zwar wird er sich für selig schätzen

Mit seinem freyen Leben hier,

Auch preisen hoch und sehr an dir,

Wann du dich wirst nach Lust ergetzen

Und frölich letzen.


Doch wird er seinen Vättern gleichen

Und ihrem Alter ehnlich seyn,

Deß rechten Liechtes klarer Schein,

Der soll ihn ewig nicht erreichen,

Noch je bestreichen.


Wer, schließlich, hoch ist und darneben

Nicht auch Verstand und Sinn erhöht,

Ist wie ein Vieh, das nichts versteht,

Das auff ein mal muß übergeben

Geist, Seel und Leben.

Quelle:
Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart [1889], S. 173-175.
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