1. Der 6. Psalm


Auff die Weise deß 77.

[167] Zu Gott in dem Himmel droben.


Herr, nicht schicke deine Rache,

Ueber meine böse Sache,

Ob sie wol durch Uebelthat

Grossen Zorn verdienet hat;

Freylich muß ich es bekennen,

Ursach hastu sehr zu brennen,

Doch, du wollest jetzt allein

Vatter, und nicht Richter seyn.


Schicke lieber, o mir Armen,

Für den Eyffer dein Erbarmen,

Heyle mich, dann ich vorhin

Schwach und lagerhafftig bin.

Siehe, wie ich ab sey kommen,

Wie mir alle Krafft genommen:

Mache, Herr, es ja nicht lang,

Marck und Bein ist sterbekranck.


Für der Sorgen, Pein und Schmertzen

Ist kein Hertz in meinem Hertzen,

Mein Gemüthe, das dich liebt

Ist biß auff den Grund betrübt.

Mein Trost, kanstu noch verweilen?

Hat es keine Noth zu eylen?

Macht dann deine Hülffe sich

Schwächer, als der Kummer mich?


Kehre wider, wider kehre,

Ehe ich mich in Angst verzehre,

Reiche deine Hand, o Gott,

Meiner Seelen in der Noth!

Zwar du möchtest sie wol hassen,

Weil sie selber dich verlassen,

Doch betrachte diß darbey,

Was dein Heyl und Güte sey.


Menschen, die nicht mehr im Leben,

Die den Geist schon auffgegeben,

Wissen nichts von Schuld und Pflicht

Und gedencken deiner nicht.

Dann wer kan dir Ehr erweisen,

Wer vermag dich wol zu preisen,

Wann er schon liegt außgestreckt

Und im tieffen Grabe steckt?


Meine müde Seufftzer sagen,

Was der Mund nicht weiß zu klagen;

Durch mein Weynen alle Nacht

Wird mein Bette naß gemacht,

Meiner Augen heisse Zehren,

Die mir Ruh und Schlaff beschweren,

Quellen als ein Wasserfluß,

Daß mein Lager schwimmen muß.
[167]

Von der Pein, die ich empfunden,

Ist mein Antlitz abgeschwunden,

Ungedult macht die Gestalt

Mir für meinen Jahren alt.

Dann ich muß von allen Seiten

Mit dem losen Hauffen streitten,

Der mir anthut Schmach und Spott

Und mich ädert auff den Todt.


Nun, ihr Uebelthäter, ziehet,

Ihr Tyrannen, auff und fliehet,

Geht, ihr Volck der Eytelkeit,

Hin, woher ihr kommen seyt,

Dann der Herr sicht, wann ich weyne,

Daß ich diß mit Treuen meyne;

Meine Thränen fliessen hin

In sein Hertz und beugen ihn.


Er, der Herr, hat schon mein Flehen

Mit Genaden angesehen,

Mein Gemüthe, das mich regt,

Hat ihm seines auch bewegt.

Alsobald ich ihn gebetten,

Ihm für Augen bin getretten,

Hatt auch seine Güte sich

Außgebreitet über mich.


Für der gantzen Welt auff Erden

Sollen die nun schamroth werden,

Zittern noch für Gott und mir,

Die mich hassen für und für.

Weichen müssen sie zurücke

Plötzlich und im Augenblicke

Und doch sehen auch darbey

Daß der Herr mein Heyland sey.

Quelle:
Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart [1889], S. 167-168.
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