Bei einer alten Kapelle

[280] (1772.)


Dich wähl' ich mir zum Heiligtume,

Du Tempel, den vor alter Zeit

In Einfalt, seinem Gott zum Ruhme,

Der fromme Vorfahr eingeweiht!

Schon sinken alle deine Mauren;

Und Dünkel, wie im öden Grab,

Geußt von den Eiben sich herab,

Die rings in deinem Schatten trauren.

Zu fühllos der Melancholei,

Die sich um dich herum verbreitet,

Und unachtsamen Blickes, schreitet

Bei dir der Wanderer vorbei;

Vergißt der alten frommen Sitte,

Die ihrem Schöpfer dich gebaut,

Und selbst in einer niedern Hütte

Nach einer bessern Welt geschaut.

Mir aber sei der brave Mann

Gesegnet, der den Bau begann!

Längst ist die Hütte weggeschwunden,

Die ihn in ihre Schirmung schloß,

Wo ruhig ihm und tadellos

Das fromme Leben hingeschwunden.[280]

Hier sah ihn jeder neue Tag

Und jedes Abends Purpurröte,

Wie er im feirenden Gebete

Aufs Antlitz hingegossen lag.

Die Engel Gottes stiegen nieder,

Und lernten seine fromme Lieder,

Und sangen sie im lauten Chor,

Im Himmel ihren Brüdern vor.

Sein einzig Glück auf Erden war

Ein gutes, edles, frommes Weib,

Und seines Lebens Zeitvertreib

Ein wonnigliches Kinderpaar.

Oft sah er in der Schattenkühle

Von Bäumen, die er selbst gepflanzt,

Im leichten, jugendlichen Spiele

Von ihnen fröhlich sich umtanzt.

Dann drückt' er fester sie, und freier

An seinen warmen Busen hin,

Und fühlte hoher Andacht Feuer

In jeder seiner Adern glühn.

Einst kam er mit verzognem Schritte,

Das Auge bang und freudenleer,

Aus seiner strohbedeckten Hütte

Zu diesem kleinen Hügel her.

»Allmächtiger! Du Gott der Götter!«

So rief er, senkte sich aufs Knie,

»Allmächtiger, du Gott der Götter,

O hilf mir, Vater, rette sie!

Mein armes Weib, von Qual umgeben,

Sieht kaum des Tages Schimmer mehr,

Und tausend Todes-Schrecken schweben

Um ihr gebrochnes Auge her.

O du, von meinen Jugendjahren

Mein Schutz und Retter, höre mich!

Mir meine Gattin zu bewahren,

Du Gott im Himmel fleh' ich dich!

Erhörest du, warum ich bete,

Dann (meine Hände heb' ich auf,

Und schwöre) hier, an dieser Stätte,[281]

Bau' ich dir einen Tempel auf.

Und ihm entgegen soll sie wanken,

Sobald des Todes Schrecken flieht,

Und ihre Thräne soll dir danken

Und ihres Herzens frommes Lied.

Die Kinder sollen Blumen sammeln,

Und sie auf deinen Altar streun,

Dir frohe Freudenthränen weihn

Und ihren Dank gen Himmel stammeln.

Mein ganzes Leben auf der Erde

Sei mir ein frommer Herzensdank,

Und jeder neue Morgen werde

Geweckt durch meinen Lobgesang!

O höre, höre! was ich flehe! –

Doch du bist Gott, dein Wille nur geschehe!«

Und froher hoffend schlich er wieder

Vom Hügel zu der Hütte nieder;

Noch aber lag dem Tode nah

Und schmachtend die Geliebte da,

Und alle Hoffnung schwand ihm wieder.

Noch unter Thränen floß ein Tag,

Und eine Schreckensnacht ihm nach.

Dann aber stieg von Gottes Thron

Ein heller Friedensbote nieder,

Und alle Todes-Schrecken flohn,

Und alle Kräfte kehrten wieder;

Und Feuer floß in ihren Blick

Und Leben in ihr Herz zurück;

Und mit dem ersten Morgenrot

Ergossen seine Dankeslieder

Sich mit dem Blumenduft zu Gott;

Und mit dem ersten Morgenrot

Bracht' er zum heiligen Altar

Den ersten Stein der Gründung dar;

Und eh' die Todesblässe wich,

Und er gesund die Gattin sah,

Stand aufgebaut der Tempel da –

Vom Morgenhimmel senkte sich

Der rosenfarbe Tag hernieder,[282]

Und alle Vögel sangen Lieder,

Und Thal und Hügel freuten sich

Als sie aus ihrer Hütte schlich.

Der Wange Freudenthränen mischten

Sich mit dem kühlen Morgentau;

Und, schöner ihr zu blühn, erfrischten

Sich alle Blumen auf der Au.

Das Kinderpaar, das sie umgab,

Brach die bethränten Blumen ab,

Und brachte dankend am Altar

Sie Gott zum süßen Opfer dar.

Ein guter alter Priester stand

Am Altar mit gefaltner Hand,

Den kleinen Tempel einzuweihen,

Und alle Nachbarn kamen dar,

Sich mit dem neu belebten Paar

In Eintracht brüderlich zu freuen,

Und ihrer aller Lippe sprach

Des Priesters Segen leise nach.

Dann kehrten mit erhelltem Blick

Sie nach dem Hüttendach zurück.

So oft der Weihungstag erschien,

Sah man das frohe Fest sie feiren,

Mit Thränen sie am Altar knien,

Und ihrer Liebe Bund erneuren.

Durch Lehren bald, und bald im Spiel

Ward aller Tugenden Gefühl

Ins Herz des unschuldsvollen Knaben

Vom frommen Vater eingegraben.


Ein sanftes Mädchen zart und weich,

An jedem Reiz der Mutter gleich,

Mit jeder Tugend angethan,

Wuchs, wie das Veilchen, still heran.

Sie war der ganzen Gegend Freude,

Und trieb der frommen Schäfchen Schar,

Die ihr an Unschuld ähnlich war,

Mit jedem Morgen auf die Weide;

Und jeden frühen Morgen schlich[283]

Sie zu dem kleinen Tempel sich,

Und betete mit frommem Beben,

Für ihrer guten Eltern Leben.


So waren sechzehn Sommer schon

In Unschuld ihr dahin geflohn,

Da ward ein süßer, sanfter Hirt

Durch ihren stillen Reiz gerührt.

Oft ungesehen war er schon

Zum kleinen Tempel hingekommen,

Und hatte still den leisen Ton

Der frommen Beterin vernommen;

Und alle seine Seufzer flohn

Mit ihrem Wunsch zu Gottes Thron.


Einst, als in Dämmerung verborgen

Noch rings umher die Gegend lag,

Und kaum ein goldner Strahl vom Morgen

Durch den bewölkten Himmel brach;

Schlich sie mit der geliebten Herde

Sich nach dem nahen Tempel hin,

Demütig vor dem Herrn der Erde

An seinem Altar hinzuknien.

Da scholl ihr Nam' ihr leis entgegen,

Und Seufzer tönten in ihr Ohr,

Und zitternd hub mit stärkern Schlägen

Ihr junger Busen sich empor.

Am Fuß des Altars hingegossen

Lag er und sah das Mädchen nicht,

Und sehnsuchtsvolle Thränen flossen,

Ihm unverhohlen vom Gesicht.

Lang blieb sie mit gerührtem Blick

Noch am bebuschten Hügel stehen;

Dann aber schlich sie ungesehen

Mit ihrer Herde sich zurück,

Und zog in einsam stillen Gründen

Den ganzen lieben Tag umher,

Und konnte keine Freude mehr

Bei ihrer Lämmer Spielen finden.[284]


Am Abend, als sich allgemach

Die Sonn' am Himmel niedersenkte,

Als sie am klaren Wiesenbach

Die müde Lämmerherde tränkte;

Da sah sie aus dem Weidenthal

Den Bruder nach der Hütte kehren,

Und freundlich bat er sie einmal

Ein frohes Liedchen ihn zu lehren.

»Ein frohes Liedchen?« sagte sie,

»O Bruder, möcht' es mir gelingen!

Doch werden wohl Betrübte nie

Von unbekannten Freuden singen.«

Da sah er sie mit Staunen an,

Und fragte: was sich zugetragen.

Und offenherzig fing sie an,

Mit Thränen alles ihm zu sagen.

Wie sie zum kleinen Tempel kam,

Und einen Trauerton vernahm,

Und dann sich näher schlich, und da,

Am Altar einen Jüngling sah;

Und wie bei ihres Namens Ton

Gen Himmel seine Seufzer flohn.

»Ach Bruder, Bruder!« sagte sie,

»Sollt' er um meinetwillen leiden? –

Der gute Himmel weiß es, nie

Verdarb ich eines Menschen Freuden!« –

»Sei ruhig,« sprach er, »Schwesterchen;

Du sollst den Jüngling morgen sehn!« –

Und mit des Morgens erstem Blick

Eilt' er, den Jüngling aufzufinden;

Und bracht' ihn nach den Weidengründen,

Wo seine Schwester war, zurück.

»Hier,« sprach er lächelnd, »bring' ich dir

Den Jüngling, den du nie betrübtest;

O welche Wonne blühte mir,

Wenn du den Tugendhaften liebtest!

Schon lang ist seine Seele dein:

Und würdig ist er, dein zu sein.«

Er sprach's und sprang im Augenblick[285]

Zum nahen Buchenhain zurück. –

Mit niederblickendem Gesicht

Ließ sie den Jüngling vor sich stehen,

Und wagt' es lange, lange nicht,

Ihn nur verstohlen anzusehen.

Doch endlich blickte sie auf ihn,

Und ihre Seele war dahin;

Und zitternd ging sie auf ihn zu,

Und sprach: »O Jüngling, liebest du

Mich und die stille Tugend rein:

So bin ich ewig, ewig dein.«

Und er umarmte sie und schwur,

Und ewig war der Liebe Schwur.

Noch lange standen sie umschlungen,

Und hastig, wie ein junges Reh,

Kam über den betauten Klee

Der frohe Bruder hergesprungen;

Und drückte wonnetrunken ihn

Und sie an seinen Busen hin,

Und sah zum Himmel dankend hin –

Dann gingen alle zum Altar,

Und brachten Dank und Thränen dar –

Noch keinem Pärchen war so süß

Das stille Leben hingeflossen,

Aufs neue schien das Paradies

Den Liebetrunknen aufgeschlossen,

Und ihrer Eltern Thräne floß,

Und dankend sprachen sie den Segen,

Und ihre ganze Seele goß

Sich ihrem frommen Wunsch entgegen.


Bald ward zum feierlichen Bund

Des Tempels Weihungstag erkoren,

Und ewig war der Liebe Bund

Am heiligen Altar beschworen.

Und Engel stiegen unsichtbar

Von ihren Silberwolken nieder,

Und sangen mit der frommen Schar

In ihre feierlichen Lieder.[286]

Und eh' ein wonnevolles Jahr

Den Liebenden dahin geschwunden,

Ward auch der Bruder am Altar

Mit einer Schäferin verbunden,

Die seiner Schwester ähnlich war.

Und die beglückten Alten sahn

Noch manchen Blumenlenz sich nahn,

Und Enkel blühten frisch heran;

Und ihrer frommen Kinder Schar

Begleitete sie jedes Jahr

Am Weihungsfeste zum Altar.

Sanft, wie der Lampe bebend Licht,

Der sterbend es an Öl gebricht,

Hub ihre Seele sich empor

Zu aller Auserwählten Chor,

Und erntete vor Gottes Thron

Der tugendhaften Thaten Lohn.


Die Kinder weinten all und sahn

Sich lang in tiefem Schweigen an,

Und jedes wünschte sich von Gott

Zu sterben der Gerechten Tod! –


In banges, düstres Schweigen war

Die ganze Gegend eingeschlossen,

Und wehmutsvolle Thränen flossen,

Wo nur ein zärtlich Auge war,

Zu Ehren dem geliebten Paar. –

Und endlich starb das fromme Paar. –

In schwarzem Trauerflor erschien

Ein langer feierlicher Zug

Und eine Schar von Greisen trug

Mit zitternden gebleichten Wangen

Die beiden nach dem Grabe hin,

Die ihrer Ruhe vorgegangen;

Und senkten schweigend ihr Gebein

Ins stille Land des Friedens ein;

Und Zeuge sollte dieser Stein

Dem späten Enkel noch von ihrer Tugend sein. –[287]

Lang ward auch noch vom Überrest

Der Frommen dieser Tag gefeiret,

Und jedes Jahr zum Trauerfest

Ihr Angedenken noch erneuret.

Allein die fromme Sitte schwand,

Die lange dieses Volk besessen,

Bald war die Tugend weggebannt,

Und mit den Redlichen vergessen.

Der Tempel sinkt in Trümmer hin,

Und keine Hand erneuret ihn.

Der Enkel hat die Redlichkeit

Tief aus dem Herzen ausgerottet,

Und überall ist Frömmigkeit

Als Aberglaub' und Furcht verspottet;

Und, wer noch Treu und Glauben hält,

Und fromm ist, dessen lacht die Welt.


O ihr, aus deren Brust noch nicht

Die alte Sitte sich verloren;

Die ihr vor Gottes Angesicht

Mit mir der Tugend Bund geschworen,

Ihr Freunde, deren Herz ich mir,

So bald ich euch ersah, erkoren,

O weint am stillen Tempel hier!

Uns Hütten bauen wollen wir,

Und von der schnöden Welt verbannt,

Von keiner Thoren-Schar umgeben,

Uns nur, und unserm Gott bekannt,

In brüderlicher Eintracht leben!

Laßt hier im stillen, unbemüht,

Dem leeren Pöbel zu gefallen,

Nur Herzensfreunden euer Lied

Das noch die Tugend rühmt, erschallen.

Laßt von des Schöpfers Milde nur

Die sanften Silbersaiten tönen,

Und jeden Bürger dieser Flur

Zu hohen Tugenden gewöhnen.[288]

Verfolgt von keiner Reue Schwarm

Werd' ich dies kleine Thal verlassen

Und friedlich in des Freundes Arm

Von allen euch beweint erblassen.

Laßt still auf dieser milden Flur

Mich unbekannt der Welt verwesen,

Und rühmt den wenig Edlen nur,

Daß ich auch euer wert gewesen.

Und dann aus letzter Freundes Pflicht,

Bepflanzt den Hügel noch mir mit Vergiß mein nicht!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 280-289.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hume, David

Dialoge über die natürliche Religion

Dialoge über die natürliche Religion

Demea, ein orthodox Gläubiger, der Skeptiker Philo und der Deist Cleanthes diskutieren den physiko-teleologischen Gottesbeweis, also die Frage, ob aus der Existenz von Ordnung und Zweck in der Welt auf einen intelligenten Schöpfer oder Baumeister zu schließen ist.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon