An einem Baum

[257] Du Baum, so morsch und lebensarm,

So ausgehöhlt, sei mir gegrüßt;

Wie doch dein froher Bienenschwarm

Die Todeswunde dir versüßt!


Sie wandern fort im raschen Zug,

Sie kehren summend wieder heim

Und bringen dir im Freudenflug

Von fernen Blumen Honigseim.


O Baum, du mahnst mein Herz so schwer

An einen lieben alten Mann;

Gott gebe, kehr ich übers Meer,

Daß ich ihn noch umarmen kann!


Baum, wie du morsch und abgedorrt,

Doch Honig birgt dein altes Reis,

So birgt der Weisheit süßen Hort

In seiner Brust der morsche Greis.


Und seine muntre Bienenschar,

Gedanken fliegen aus und ein

Und bringen Honig süß und klar,

Die reiche Beut aus Wies und Hain;


Oft locket sie von hinnen weit,

Zu Blumen, die kein Herbst uns raubt,

Der Frühlingshauch der Ewigkeit;

Dann senkt er still sein edles Haupt.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 257.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Faust: Ein Gedicht
Gedichte
Die schönsten Gedichte
Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)