Die Seejungfrauen

[139] Freundlich wehn die Abendwinde,

Schimmern Mond und Sterne;

Und das Schiff, so leicht und linde,

Trägt mich nach der Ferne.


Fried und Liebe, hold verbunden,

Schweben auf der Tiefe,

Ob der Tod mit seinen Wunden

Nun auf immer schliefe.


Sinnend starr ich nach dem hellen,

Grenzenlosen Meere,

Nach des Mondes und der Wellen

Heimlichem Verkehre;


Plötzlich seh ich rasche Wogen

Aus der Tiefe springen,

Die da kommen hergezogen,

Einen Gruß zu bringen.


Ists ein Gruß von Tiefverbannten

An die Sternenlichter?

Gilt das Grüßen dem verwandten

Ahnungsvollen Dichter?


Tiefewärts mit süßem Zwange

Zieht es mich zu schauen,

Mit geheimnisvollem Drange

Zu den Seejungfrauen.


Ja, von euch, ihr Rätselhaften,

Kam dies volle Rauschen,

Dran die Seele sehnend haften

Muß und niederlauschen.[139]


Ward euch ahnend eine Kunde

Im Korallenhage,

Daß ein warmes Herz zur Stunde

Euch vorüberschlage?


Glücklich die Piloten waren,

Denen ihr erschienen

Mit den schönen, wunderbaren,

Lieblich fremden Mienen!


Könnt ich tauchen nieder, nieder

Bis in eure Nähen!

Könnt ich eurer schlanken Glieder

Leisen Wandel sehen!


Sehen euch den Reigen üben,

Schwesterlich verschlungen,

Schweigend in den ewig trüben

Meeresdämmerungen!

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 139-140.
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