Der Schiffsjunge
1.

[144] Das wilde, schäumende Roß,

Gejagt von der Sporen scharfem Stoß,

Auf krumm gewundener Reiterbahn

Mit seitwärts geneigtem Leibe stürmt:

So fliegt, wie die Flut sich senkt und türmt,

Das Schiff die Wellen hinab, hinan,

Vom mächtigen Seitenwinde gefaßt,

Mit tief bordüber geneigtem Mast.


Es braust das Meer, es kracht und stöhnt

Des beladnen Fahrzeugs schwere Wucht

Auf seiner rastlos eiligen Flucht;

Der Matrosen freudiges Hurra! tönt.

Der Steuermann am Ruder steht,

Das Rad mit gewaltigen Armen dreht,

Stets blickend scharf aufs zitternde Schwanken

Der Bussole mit mancherlei frohen Gedanken:

Er überzählt sein Geldchen im stillen;

Schon hört er am Strande die Fiedel klingen,

Wo blühende, lustige Dirnen springen,

Die gerne dem Seemann sind zu Willen.[144]

Vergnügt, die Heimat wiederzusehn,

Am Verdeck frisch auf und nieder geht

Waghaltenden Schritts der Kapitän

Und lächelnd empor in die Segel späht,

Die voll ihm schwellen zur Augenlabe

Von des Windes köstlicher, flüchtiger Habe.


Dort klettert ein Junge gar flink und heiter

Die Sprossen hinauf der schwankenden Leiter;

Schon hat er erreicht in munterer Hast

Die höchsten Segel am stolzen Mast;

Den Lüftefänger, den Wolkenraser,

Den Mondespflücker, den Sternengraser;

Da bricht das morsche Tau entzwei,

Woran er geschwebt, – ein banger Schrei –

Er stürzt hinunter ins Meer,

Und über ihn stürzen die Wellen her.


Umsonst, Matrosen, ist euer Bemühn,

Den Jüngling zu retten, er ist dahin!

Wie hungernde Bestien stürzen die Wellen

Dem Opfer entgegen, sie schnauben und bellen;

Schon hat ihn die eine wütend verschlungen,

Und über sie kommen die andern gesprungen,

Die um die Gierige neidisch schwärmen

Mit schäumendem Rachen und wildem Lärmen.


Die Sonne wiederum zu Himmel steigt,

Da ruhn die Winde, jede Welle schweigt,

Und traurig steht der feiernde Matrose,

Nachdenkend seinem wandelbaren Lose.

Klar blickt der alte Mörder Ozean

Dem Himmel zu, als hätt er nichts getan.


2.

[145] Aus des Frühlings warmen, weichen Armen

Riß das schnelle Unglück ohn Erbarmen

Ihn hinunter in das tiefe Meer.

Über ihm und seinen Jugendträumen

Seht ihr nun die kalten Wogen schäumen;

Seine Heimat grüßt er nimmermehr.


Oder hat der Frühling eine Kunde

Senden wollen nach dem kühlen Grunde,

Als er diesen Jüngling fallen ließ?

Sammeln sich um ihn die Seejungfrauen,

Froherstaunt, in der Korallenauen

Stillem, trübe dämmerndem Verlies?


Flechten sie schon freudig und erschrocken,

Schöner Fremdling, in die nassen Locken

Muscheln dir zum weißen Rosenkranz?

Werden sie in ihren Felsenriffen

Nicht von dunkler Sehnsucht schon ergriffen

Nach des Erdenfrühlings heiterm Glanz?

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 144-146.
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