Adler und Taube

[325] Ein Adlersjüngling hob die Flügel

Nach Raub aus;

Ihn traf des Jägers Pfeil und schnitt

Der rechten Schwinge Sennkraft ab.

Er stürzt' hinab in einen Myrtenhain,

Fraß seinen Schmerz drei Tage lang

Und zuckt' an Qual

Drei lange, lange Nächte lang.

Zuletzt heilt ihn

Allgegenwärt'ger Balsam

Allheilender Natur.

Er schleicht aus dem Gebüsch hervor

Und reckt die Flügel – ach![325]

Die Schwingkraft weggeschnitten –

Hebt sich mühsam kaum

Am Boden weg

Unwürd'gem Raubbedürfnis nach,

Und ruht tieftrauernd

Auf dem niedern Fels am Bach;

Er blickt zur Eich hinauf,

Hinauf zum Himmel,

Und eine Träne füllt sein hohes Aug.


Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste

Dahergerauscht ein Taubenpaar,

Läßt sich herab und wandelt nickend

Über goldnen Sand am Bach

Und ruckt einander an;

Ihr rötlich Auge buhlt umher,

Erblickt den Innigtrauernden.

Der Tauber schwingt neugiergesellig sich

Zum nahen Busch und blickt

Mit Selbstgefälligkeit ihn freundlich an.

»Du trauerst«, liebelt er,

»Sei guten Mutes, Freund!

Hast du zur ruhigen Glückseligkeit

Nicht alles hier?

Kannst du dich nicht des goldnen Zweiges freun,

Der vor des Tages Glut dich schützt?

Kannst du der Abendsonne Schein

Auf weichem Moos am Bache nicht

Die Brust entgegenheben?

Du wandelst durch der Blumen frischen Tau,

Pflückst aus dem Überfluß

Des Waldgebüsches dir

Gelegne Speise, letzest

Den leichten Durst am Silberquell

O Freund, das wahre Glück

Ist die Genügsamkeit,[326]

Und die Genügsamkeit

Hat überall genug.«

»O Weise!« sprach der Adler, und tief ernst

Versinkt er tiefer in sich selbst,

»O Weisheit ! Du redst wie eine Taube!«


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 325-327.
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