SAPPHISCHE STROFEN

[35] All die nacht durch traf nicht der schlaf mein auglid ·

Goss nicht tau · entfaltete keine feder ·

Schloss die lippen fest und metallnen auges

Stand er und sah mich.


Mir dem wach daliegenden kam ein traumbild

Ohne schlummer über das meer · mich rührend ·

Rührte sanft mir lippe und lid und ich dann ·

Voll von dem traumbild ·


Sah wie weiss unsöhnbar die Aphrodite

Losen haares ohne sandal am fusse

Schien mit glut von westlichen meeressonnen ·

Sah den gesträubten[36]


Fuss · die straffen federn des taubenzuges ·

Schauend immer · schauend den hals gewendet

Rück nach Lesbos · rück zum gebirg worunter

Schien Mitylene ·


Hörte hinter ihr der eroten fliehen

Auf den wassern plötzliche donner machend

Wie der donner fährt von den stark entspannten

Schwingen des sturmwinds.


So verliess die göttin ihr heim mit furchtbarm

Schall von tritt und donner von schwingen um sie ·

Während rückwärts singender fraun gelärme

Drangen durchs zwielicht.


O des sangs · der seligkeit · o der gierde!

Die eroten lauschten in tränen · angst-siech

Standen die neun musen gekrönt um Phöbus ·

Furcht lag auf ihnen ·


Da die zehnte sang: ihnen fremde wunder.

O die zehnte Lesbische! alle schwiegen ·

Keine trug den schall dieses lieds vor weinen ·

Lorbeer auf lorbeer[37]


Dorrten alle kränze · doch ihr ums haupt her

Rings um ihre flechten und aschnen schläfen

Weiss wie grabschnee · bleicher als gras im sommer ·

Küsse-verwüstet ·


Schien ein licht von feuer als ewge krone ·

Ja fast die unsöhnbare Aphrodite

Hielt und weinte fast · so ein sang war der sang.

Ja auch bei namen


Rief sie: zu mir wende dich · meine Sappho!

Doch sie · abgewandt den eroten · sah nicht

Tränen statt gelächter der göttin auge

Trüben · vernahm nicht


Schreckhaft stosshaft schwingen der taubenflügel ·

Sah nicht · dass der busen der Aphrodite

Weinend bebte · sah nicht ihr bebend kleid · ihr

Ringen der hände ·


Sah die Lesbier über zerschlagne lauten

Küssend · lippen süsser als lautenstränge ·

Mund auf mund und hand zwischen hand der trauten ·

Schöner als männer ·[38]


Sah allein die lippen und schönen finger ·

Voll von sang und küssen und kleinem wispern ·

Voll von tönen · schaute nur unter ihnen

Steigen wie vögel


Neulings flück · den sichtbaren sang · ein wunder

Von vollkommenem ton und liebesunmass ·

Süss geformt und furchtbar voll donners trug er

Schwingen des windes.


Dann entzückt und lachend vor liebe streut sie

Rosen · hehre rosen von heiliger blüte ·

Die eroten hüllten sich trüb und drängten

Um Aphrodite ·


Und die musen schwiegen · ins herz getroffen ·

Götter wurden bleich · so ein sang war der sang ·

Alle sträubend · alle mit frischem schauder

Flüchteten vor ihr ...


Alle flohn seit längst und das land ward öde ·

Voll von brachen frauen und tönen einzig.

Jezt vielleicht · wenn winde sich abends legen ·

Lullend beim taufall ·[39]


Kehrt zum grauen seestrand die unerlöste

Ungeliebte im dämmerlicht ungesehne

Schar zurück der klagend verworfnen fraun die

Lethe nicht reinigt ·


Rings umhüllt von tränen und glut und singend ·

Und das herz des himmels erschüttert pochend

Und das herz der erde vor mitleid brechend ·

Hört sie zu hören.

Quelle:
George, Stefan: Zeitgenössische Dichter. Erster Teil, Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 15, Berlin 1929, S. 35-40.
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