ANFANG DES FEGEFEUERS · DIE BEKRÄNZUNG MIT DEM SCHILF

[69] Dass nun auf bessrer flut mit seinem steuer

Das kleine fahrzeug meines geistes streiche

Nachdem er liess ein meer so ungeheuer!


Ich singe nun von jenem Zweiten Reiche

Wo menschensinnes reinigung geschehe

Damit er wert das paradies erreiche.


Dass nun die tote dichtung auferstehe

O heilige Musen denen ich gehöre!

Kalliope ein weilchen mit mir gehe


Mit jenem ton begleitend meine chöre

Der die armseligen Elstern schuf in tiere

Ohn jede hoffnung dass man sie erhöre!


Der sanfte glanz vom östlichen saphire

Sich durch die heitren lüfte hin verstreute

Rein bis hinauf zum obersten reviere[69]


Und machte dass von neuem ich mich freute

Nachdem ich aus dem toten dunst entflohen

Der mir das auge und die brust bedräute.


* *

*


›So geh denn! damit jeder russ verschwinde

Sein angesicht zu waschen und erkiese

Das glatte schilf womit er sich umwinde!


Nicht würde sich geziemen wenn er wiese

Getrübt von dünsten seiner augen flamme

Vorm ersten diener in dem paradiese.


An dieses kleinen eilands unterm damme

Wo ihm die fluten rings entgegenschwellen

Erhebt sich schilfrohr aus dem weichen schlamme.


Kein anderes gewächs dem blätter quellen

Und das zu holz wird ist dort je gediehen

Weil sichs nicht schmiegt dem ungestüm der wellen.[70]


Ihr sollet fürder hierher nicht mehr fliehen!

Dort geht die sonne auf · ihr sollt erproben

Auf bestem steig den berg hinaufzuziehen.‹


Und er verschwand. Ich hatte mich erhoben

Und drängte mich heran mit keinem worte

An meinen herrn und sah vor ihm nach oben.


Und er begann: O sohn · nach diesem orte!

Folg mir! wir kehren um · auf diesem pfade

Neigt sich die ebne nach der flachen borte.


Die helle trieb den dämmer der gerade

Vor uns entfloh so dass ich in der weite

Die wellen zittern sah an dem gestade.


Wir gingen durch das einsame gebreite

Wie einer zum verlornen weg mit sorgen

Umkehrt und weiss dass er vergeblich schreite.


Als er zu einer stelle wo der morgen-

Tau mit der sonne streitet hin mich brachte

Der hier nur wenig schwindet · kühl geborgen:[71]


Sah ich mit seinen beiden händen sachte

Den Meister durch die nassen gräser langen ..

Worauf ich · der erriet was er gedachte ·


Entgegenhielt die tränenvollen wangen

Damit er jene farbe wieder rüste

Die in der hölle ganz und gar vergangen.


Wir kamen dann zu der verlassnen küste

In deren flut sich keiner noch verloren

Der nachher wieder umzukehren wüsste.


Er kränzte mich nach dem geheiss mit rohren.

O wunder! denn so oft er sich drum bückte

Ward die bescheidne pflanze neu geboren


Im augenblicke dort wo er sie pflückte.


Fegefeuer · I. Gesang · 1–18 und 94–136.[72]

Quelle:
George, Stefan: Dante. Die göttliche Komödie. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 10/11, Berlin 1932, S. 69-73.
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