Das Menschliche Wissen

[694] A.


Du bist bemühet, auszufinden

Der Creatur verborg'ne Spur;

Du hast gesuchet, zu ergründen

Die Wissenschaften der Natur;

So sage mir nun einst die Wahrheit,

Doch ohne Dunckelheit, mit Klarheit;

Was ist denn eigentlich das Licht?


B.


Das weis ich nicht.


A.


Was ist das Wasser? was ist Erde?

Erzähle mir, wie beydes werde,

Und wie ein jedes zugericht't!


B.


Das weis ich nicht.


A.


Was ist das Feur? was sind die Lüfte?

Was ist das Trockne? was sind Düfte?

Was ist ihr Zweck? was ihre Pflicht?


B.


Das weis ich nicht.


A.


Was ist doch eigentlich von innen

Die wunderbare Kraft der Sinnen?

Was das Gehör? was das Gesicht?


B.


Das weis ich nicht.


A.


Wie kömmts, daß Speisen, die wir schmecken,

Uns so verschied'ne Lust erwecken?

Gib davon deutlichen Bericht!


B.


Das weis ich nicht.


[695] A.


Wie kömmt es, daß man fühlt und spühret?

Wie wird des Menschen Leib formiret?

Mein, sage mir, wie das geschicht?


B.


Das weis ich nicht.


A.


Wie kömmts, daß etwas lieblich klinget;

Die Nachtigall so lieblich singet;

Ein Papagoy und Rabe spricht?


B.


Das weis ich nicht.


A.


Wie kann, wie wir erstaunet schauen,

Ein Vogel solch ein Nestchen bauen,

Das er ohn' Hand so künstlich flicht?


B.


Das weis ich nicht.


A.


Wie können denn der Menschen Seelen

Mit ihrem Cörper sich vermählen?

Gib mir doch davon Unterricht!


B.


Das weis ich nicht.


A.


So wirst du mir doch Nachricht geben:

Wie kömmt es, daß der Todt das Leben

Oft so gar plötzlich unterbricht?


B.


Das weis ich nicht.


A.


Kannst du auf alle meine Fragen

Mir denn gar nichts zur Antwort sagen;

So zeige mir nun selber an:

Was weist du dann?


[696] B.


Ich weis: Ich bin. Warum? ich dencke.

Ich weis, daß Gott die Erde lencke,

Die Himmel, und auch die Natur.

Dieß weis ich nur!


Ich weis, daß Gott, der Schöpfer, lebe,

Und uns so viele Güter gebe,

Daß man dafür Ihm dancken soll.

Das weis ich wohl.


Daß unser Schöpfer alles wisse,

Und daß man Ihn bewundern müsse;

Daß Er so liebreich, als Er groß:

Dieß weis ich bloß!


ER will sich hier von uns nicht fassen,

Und nur allein bewundern lassen.

Dahin nur gehet unsre Pflicht;

Und weiter nicht!

Quelle:
Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 694-697.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Irdisches Vergnügen in Gott
Irdisches Vergnügen in Gott: Erster und zweiter Teil
Irdisches Vergnügen in Gott: Dritter und Vierter Teil

Buchempfehlung

Aischylos

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Die Orestie. Agamemnon / Die Grabspenderinnen / Die Eumeniden

Der aus Troja zurückgekehrte Agamemnon wird ermordet. Seine Gattin hat ihn mit seinem Vetter betrogen. Orestes, Sohn des Agamemnon, nimmt blutige Rache an den Mördern seines Vaters. Die Orestie, die Aischylos kurz vor seinem Tod abschloss, ist die einzige vollständig erhaltene Tragödientrilogie und damit einzigartiger Beleg übergreifender dramaturgischer Einheit im griechischen Drama.

114 Seiten, 4.30 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon